"Welches Medikament soll ich nehmen? Und wie viel?" Für Menschen mit einer psychotischen Störung sind das existenzielle Fragen. Sie leiden unter Angst, Halluzinationen oder Wahnvorstellungen und sind gefangen in ihrer eigenen Welt. Ausgelöst werden die Symptome durch eine Überproduktion des Botenstoffs Dopamin im Gehirn. Neuroleptika können die Aufnahme des Dopamins blockieren. Heilen können sie damit die Erkrankung nicht. Sie können aber- zumindest bei einigen Patienten - die Symptome lindern.
Gefährliche Nebenwirkungen
Allerdings sind die Nebenwirkungen immens: Sie reichen von Apathie, Abgeschlagenheit, Lähmungserscheinungen und Sprachstörungen bis hin zu einem hohen Risiko für Diabetes, Gefäßerkrankungen und frühe Sterblichkeit. Bleibt also nur die Wahl zwischen Pest und Cholera?
Mit dem Motto "Weniger ist mehr" will Dr. med. Volkmar Aderhold eine Alternative aufzeigen. Denn er ist überzeugt: Mit der niedrigst möglichen Dosierung, Geduld und guten Umweltbedingungen könnte den meisten Patienten viel besser geholfen werden. In der Auftaktveranstaltung der "Wormser Tage der Seelischen Gesundheit" am 21. September stellte er aktuelle Forschungsergebnisse vor und gab viel Raum für Fragen.
Verwirrung und Widersprüche
Neurotransmitter, Promethazin, Haloperidol... der gut besetzte Saal der Wormser Dreifaltigkeitsgemeinde schwirrt vor Fremdworten an diesem Abend. Ein Vortrag nur für studierte Mediziner? Irrtum. Vor allem Betroffene, Angehörige und Mitarbeiter sozialer Dienste sind gekommen. Ihre fachkundigen Fragen zeigen: Sie sind gut informiert über die verschiedenen Substanzen und deren Markennamen. Aber das hat ihnen weder Verwirrung noch leidvolle Erfahrungen erspart, denn die Informationen durch Ärzte, Pharmaindustrie oder Internet sind oft widersprüchlich und verwirrend. Zumal viel Geld im Spiel ist: Nach den Antidepressiva sind sie die am häufigsten verordneten Psychopharmaka. Bei den Umsätzen liegen sie sogar an erster Stelle.
Wer weniger oder gar nichts nehmen will, gilt bei Medizinern schnell als 'non-compliant' - als nicht kooperativ. Mitarbeiter von Krankenhausstationen sind oft überlastet und wissen sich nicht anders zu helfen, als Patienten mit Neuroleptika "ruhig zu stellen". Und auch Familie und Freunde raten oft dringend zur Einnahme, weil sie keinen Zugang mehr zu den Erkrankten finden. Das alles kann Druck auf Erkrankte ausüben und macht es ihnen nicht leichter, eine Entscheidung zu treffen. Auch dann, wenn es ihnen wieder besser geht: Einerseits fürchten sie einen Rückfall, vor dem das Medikament sie eventuell schützen kann - andererseits Persönlichkeitsveränderungen und gesundheitliche Risiken.
Kernaussagen in Kürze
Aderhold bemüht sich seit Jahren in Fortbildungen und Vorträgen, sachlich und auf dem aktuellsten Forschungsstand zu informieren. Hier sehr verkürzt seine Kernaussagen (im einzelnen nachlesbar in seinen Vortragsunterlagen, die über den Caritasverband bezogen werden können): Ihre Nebenwirkungen werden immer noch unterschätzt. Sie sind weitaus gravierender und gefährlicher, als man lange annahm.
Ihre positive Wirkung wird dagegen überschätzt. Die Symptome werden nur bei einer Minderheit von Patienten zufriedenstellend gelindert. Ähnlich wie bei vielen Schlafmitteln schwächt sich zudem mit der Zeit ihre Wirkung ab. Die Dosis muss also erhöht werden, um den gleichen Effekt zu zielen - ein Teufelskreis. Als "Ausweg" werden dann oft mehrere Medikamente gleichzeitig verordnet. Gegen diese sog. Polypharmazie läuft jetzt in den USA wegen der immensen Gesundheitsgefährdung eine große Kampagne.
Behutsamkeit und Geduld
Die positive Wirkung steigert sich oft gar nicht, wenn man mehr nimmt. Für eine Linderung der Symptome reicht in vielen Fällen eine sehr viel niedrigere Dosis, als sie üblicherweise verabreicht wird. Das mindert die Nebenwirkungen und damit die Risiken erheblich. Eine Steigerung der Dosis sollte in jedem Fall sehr langsam erfolgen, denn oft lohnt sich Geduld.
Inklusion braucht den vorsichtigen Umgang mit Neuroleptika
Erwiesen hat sich auch: Je weniger Neuroleptika sie nehmen, desto besser kommen viele im Alltag klar - auch dann, wenn ihre Symptome nicht verschwinden. Denn gerade die Nebenwirkungen können Arbeit und soziale Kontakte so gut wie unmöglich machen. Inklusion setzt also den vorsichtigen und behutsamen Umgang mit Neuroleptika voraus.
Dosis verringern nur in enger Absprache!
Aderhold setzt sich dafür ein, die Wünsche und Bedürfnisse der Patienten zu respektieren, so wenig wie möglich Medikamente zu verordnen und Menschen immer auch mit anderen Therapien und im Rahmen ihres sozialen Umfeldes zu helfen. Aber er betont auch: Wer die Dosis verringern wolle, solle dies unbedingt nur in sehr enger Absprache mit Arzt und den Menschen seiner Umgebung tun. Der gesamte Vortrag kann als Power Point Datei bezogen werden: beratungsstelle@caritas-worms.de
Text und Bilder: Patricia Mangelsdorff
Freie Mitarbeiterin des Caritasverbandes Worms e.V.
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