"Es ist unbestreitbar, dass die Pandemie Politik und Gesellschaft 2020 überrascht und dass sie langwährende Folgen hinterlassen hat. Aus dieser Erfahrung müssen wir die nötigen Schlüsse ziehen. Ein öffentlicher Wettstreit, wer die meisten Fehler findet, hilft dabei nicht, noch viel weniger eine Kultur des An-den-Pranger-Stellens. Wir müssen Corona konstruktiv-kritisch aufarbeiten. Jede geplante Enquete-Kommission sollte neben Wissenschaftler_innen deshalb besonders diejenigen einbeziehen, die in der Praxis, bei den Menschen, in der Corona-Zeit Verantwortung übernommen und Lösungen gefunden haben", fordert Eva Maria Welskop-Deffaa, Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes.
"Wir wollen aus unseren Stärken lernen. Wie wichtig eine tragfähige soziale Infrastruktur war und ist, wird jetzt, vier Jahre nach dem ersten Lockdown, erneut offenbar," so Welskop-Deffaa weiter. "Ein dichtes Netz der Gesundheitsversorgung, Familien- und Sozialberatungsstellen, eine Alten- und Behindertenhilfe mit auskömmlichen Personalschlüsseln - das alles wird dringend gebraucht!" Die Spuren der Pandemie sind tief in der Gesellschaft eingraviert, Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen haben sich verdoppelt, Mitarbeitende in den bundesweit rund 120.000 Einrichtungen und Diensten der Freien Wohlfahrtspflege sind nachhaltig erschöpft und bei Bürger_innen ist die Skepsis gegenüber politischen Entscheidungsträgern gewachsen
Caritas-Einrichtungen und Dienste: Corona-Maßnahmen brachten erhebliche Belastungen
Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der 2020 ergriffenen Maßnahmen lässt sich nicht pauschal beantworten. Sie wurden nach dem damaligen Wissensstand getroffen, heute wissen wir mehr über die Wirksamkeit und die Nebenfolgen. Insgesamt konnten sie die Ausbreitung des Virus eindämmen und vulnerable Bevölkerungsgruppen schützen. Dabei führten sie gleichzeitig zu erheblichen Belastungen: "Aus heutiger Sicht hätte das anfangs strikte Verbot von Angehörigenbesuchen und des Zugangs von Seelsorgenden zu Schwerstkranken schrittweise anders geregelt werden müssen. Der Schutz der Gesundheit unserer Bewohner_innen steht zweifellos an erster Stelle, aber wir müssen auch die Bedeutung von sozialen Kontakten für das seelische Wohlbefinden erkennen. Die Balance zwischen Schutzmaßnahmen und dem Recht auf zwischenmenschliche Beziehungen muss ausgewogen sein. Damit Angehörige zum Beispiel auch bei Sterbenden sein können", sagt Gundekar Fürsich, Geschäftsführer der Caritas Altenhilfe Trägergesellschaft St. Elisabeth gGmbH in Erfurt.
Folgen der Corona-Krise zeigen sich besonders bei Jugendlichen und Frauen
Das psychische Wohlbefinden vieler Menschen ist in Folge der Erfahrungen in der Pandemie gestört. Das ist ein großes Thema in der Jugendhilfe, in der Erziehungs- und Familienberatung, in der Suchtberatung, in den Einrichtungen für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen und im Bildungsbereich. Die Gestaltung der Schulschließungen war in der Art und Weise wie sie umgesetzt wurde, nicht notwendig, das wissen wir heute. Kinder gerieten aus dem Blick der Fachkräfte in Schulen, Kitas und Freizeitstätten, sie erhielten keine Hilfe bei Problemen in den Familien. Eine Generation von Kindern, die Gewalt und Vernachlässigung länger aushalten musste bevor irgendwann die Systeme wieder griffen. Fast jede vierte Frau zwischen 16 und 35 Jahren leidet unter den Folgen der Pandemie. Die Frauen berichten von Überforderung, Zukunftsängsten und Vereinsamung. "35 Prozent der Mädchen zwischen 16 und 19 Jahren leiden unter depressiven Symptomen, bei den Jungen sind es 15 Prozent. Viele Jugendliche haben in der Corona-Pandemie den gesellschaftlichen Anschluss oder die berufliche Perspektive verloren. Besonders Mädchen am Übergang zwischen Schule und Beruf leiden darunter. Junge Frauen mit Kindern mussten während des Lockdowns großem Druck standhalten, weil sie Kindererziehung, Betreuung, Begleitung im Homeschooling mit eigener Berufstätigkeit und/oder Schulbesuch/Studium vereinbaren mussten. Das blieb lange außerhalb des öffentlichen Interesses", beschreibt Monika Kießig, Einrichtungsleiterin bei der Caritas Familien- und Jugendhilfe gGmBH in Berlin Neukölln.
Ausblick: Vorsicht beim Rotstift im Sozialbereich
Covid ist nicht Vergangenheit. In den Krankenhäusern der Caritas werden nach wie vor Infizierte behandelt, in den Reha-Einrichtungen Menschen nach Infektionen bzw. mit Long-Covid betreut. Caritasverbände haben neue Angebote, wie Selbsthilfegruppen für Patient_innen mit Long Covid, auf die Beine gestellt. Und in den Caritas-Beratungsstellen macht sich bemerkbar, welche schwerwiegenden, auch finanziellen Folgen, die Pandemie für viele Menschen hatte.
"Um Krisen wie die Pandemie zu bestehen, brauchen wir ein dicht geknüpftes Netz sozialer Infrastruktur. Eine krisenresiliente Gesellschaft braucht Pufferkapazitäten in den sozialen Einrichtungen und Diensten. Sie braucht risikobereite verantwortungsbewusste Entscheidungsträger, die zupacken, wenn es brennt, und ein funktionierendes Miteinander von freiwilligem und beruflichem Engagement, von Wissenschaft und Praxis, von Sozialverwaltung und freien Trägern in einer solidarischen Gesellschaft. Aus Corona lernen heißt daher auch, in Haushaltsberatungen den Rotstift nicht zuerst im Sozialbereich anzusetzen", sagt Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa.